Auch Schwerstkriminelle sterben

Auch Schwerstkriminelle sterben

13. März 2024

Bei diesem Patienten handelt es sich um einen 71-Jährigen, der am Lebensende angekommen ist. Eine Familie oder Freunde hat er nicht. 


Er hat Lungenkrebs, der ihm beim Luft holen große Probleme bereitet. Zur Unterstützung bekommt er Sauerstoff.


Der Patient ist 26 Jahre in Haft gewesen wegen mehrfachen Mordes. Er ist kräftig gebaut und überall tätowiert, wie man solche Schwerverbrecher im Fernseher oft zu sehen bekommt. Ich möchte nicht seine Vergangenheit verurteilen und beschäftige mich nur mit seinem momentanen Befinden. Auf Fragen an ihn bekomme ich sehr ernste Blicke und kurze, direkte Antworten. Vorsichtig versuche ich einen Zugang zu ihm aufzubauen. Dann sagt er mir, ich solle ein ok seines Betreuers einholen, um mit ihm Sprechen zu dürfen. 


Sein Zimmer ist unheimlich dunkel. Die Gardinen sind komplett zugezogen und es kommt nur ein kleiner Lichtschein durch, das einzige Licht im Zimmer. 


Auf seinem muskulösen Unterarm sehe ich ein großes tätowiertes Kreuz, was mir das Zeichen gibt, dass er gläubig sein könnte. Nach einer Zeit frage ich, ob ich ihm etwas aus dem christlichen Gebetsbuch vorlesen darf. Er blickt zu mir, nimmt das Angebot dankend an und dreht sich wieder ab. Was ich sehr interessant finde ist, dass er so schwach er auch ist, nach jedem kurzen Gebet, immer „Amen“ sagt, was ich an seinen Lippen ablesen kann. 


Psychisch muss die lange Haftstrafe auch Spuren hinterlassen haben, da er immer wieder zuckt und dann mit riesig aufgeschlagenen Augen nach links und rechts schaut. Immer wieder gebe ich ihm zu Trinken und er bedankt sich. 


Am Ende sagt er noch: „Ich werde zur Rechenschaft gezogen werden und weiß nicht, ob mir vergeben wird. Ich habe doch mit meiner so langen Haftstrafe alles verbüßt.“ Ich nehme seine Hand und sage zu ihm: „Gott verzeiht, man muß nur um Vergebung bitten und fest daran glauben.“


Er lässt seinen Gefühlen freien Lauf und ich sehe, wie er immer wieder weint. Es beschäftigt mich ebenfalls und auch bei mir laufen Tränen. Nach ca. 2 Std. Besuch verabschiede ich mich. 


Am Folgetag bekomme ich die Info, dass der Patient noch in der Nacht verstorben ist. 


(Serkan)


Serkan Ilker ist ehrenamtlicher Sterbebegleiter. Mit seiner Kolumne bei #imländle nimmt er uns einmal im Monat zu seinen Begleitungen mit, um uns für die Themen Tod und Sterben zu sensibilisieren und diese zu enttabuisieren. Möchtest du mehr über die Arbeit von Serkan und seinen ehrenamtlichen Kolleg*innen erfahren? Dann schau mal hier.


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