Plötzlich Krebs

Plötzlich Krebs

07. Juni 2024

Heute darf ich einen 78-jährigen Mann begleiten. Bei einer Routine-Kontrolle stellte man fest, dass er auf der Leber einen Tumor hat. 
Mit der Diagnose nimmt die Krankheit sehr schnell seinen Lauf. Der Patient lehnt jegliche Maßnahmen ab, möchte lieber befreit werden und sterben. 
Zwei Töchter begleiten ihn bis zu diesem Moment allein, stoßen aber schnell an ihre Grenzen und wenden sich an uns. Nach einem kurzen Kennenlernen mit der Tochter, die die Begleitung inzwischen übernommen hat, werde ich mit dem Patienten allein gelassen. Sie erzählte mir auch, dass der Vater nicht mehr spricht. 
Auf dem Beistelltisch steht ein Holzkreuz. Daher nehme ich mein christliches Gebetsbuch und bete für ihn. Nach ein paar Kurzgebeten, faltet er die Hände und fängt an zu beten. Er sagt: „Lieber Vater im Himmel ich möchte dir danken für die Zeit, die ich leben durfte. Heute Nacht werde ich entscheiden, wie es weiter geht.“ Ab diesem Moment heult er nur noch und ich wundere mich, da er doch nicht mehr reden konnte. Wir reden viel und er sagt mir, dass er Angst hat. Nachdem ich auf der Station frage, ob er was gegen die Angst bekommt, gehe ich. 
Zwei Tage später treffe ich einen ganz anderen Menschen an. Der Tod steht ihm ins Gesicht geschrieben. Alle Merkmale sind deutlich zu sehen. 
Wieder bete ich für ihn, aber er nimmt mich nicht mehr wahr. Lange Atemaussetzer und das typische Todesrasseln sind deutlich wahrzunehmen. 


Ich kippe das Fenster und setze mich an die Bettkante. Dann sage ich leise, er könne loslassen, die Familie sei nicht mehr da und seine Seele kann ausdringen, er brauche nicht unnötig am Leben festhalten. Irgendwann merke ich, wie die Schnappatmung einsetzt und sehe dann ein letztes Mal, wie er seine wunderschönen blauen Augen weit öffnet und starr zu mir schaut.  


Er sagt letzte Worte, die ich aber nicht verstehe. Nach einem letzten Aufstoßen stellt er seine Atmung dann endgültig ein.


(Serkan)


Serkan Ilker ist ehrenamtlicher Sterbebegleiter. Mit seiner Kolumne bei #imländle nimmt er uns einmal im Monat zu seinen Begleitungen mit, um uns für die Themen Tod und Sterben zu sensibilisieren und diese zu enttabuisieren. Möchtest du mehr über die Arbeit von Serkan und seinen ehrenamtlichen Kolleg*innen erfahren? Dann schau mal hier. 


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