Sterben im Behindertenheim

Sterben im Behindertenheim

04. Januar 2023

Die Patientin, von der ich heute berichte, trug durch einen medizinischen Eingriff eine bleibende Behinderung davon. Seit dem Vorfall war sie auf dem geistigen Stand einer 2-Jährigen stehen geblieben und saß im Rollstuhl. Wir wurden vom Hospiz beauftragt, in die Begleitung zu kommen, da sie seit einem Jahr unter Darmkrebs leidet und ihr Zustand immer schlechter wurde. 


Auf Wunsch ihres Bruders, ihrem Vormund, wurde sie durch Infusionen mit künstlicher Ernährung und Flüssigkeit versorgt. Sobald ihr die Nahrung verabreicht wurde, erbrach sie. Ich saß an ihrem Bett und zeigte ihr auf meinem Handy Videos von ihren Lieblingstieren: den Pferden. Ich lächelte sie an, um ihr zu zeigen, dass sie mir, obwohl ich fremd war, vertrauen könnte. Ich glaube, es tat ihr gut, dass ich da war. 


Während der Begleitung ließ ich Musik laufen. Die Krankenschwester hörte das, kam in unser Zimmer und flüsterte: Die Musik ist zu komplex, spiel lieber Pumuckl vor. In diesem Moment wurde mir klar, dass es mir schwer viel, in einer 57-jährigen Frau die 2-Jährige zu sehen. 


Nach zwei Stunden verabschiede ich mich und sage, ich komme wieder. Was für ein Schicksal. 


Zwei Tage später besuchte ich sie wieder und versuchte zu verstehen, wie es ihr ging. 


Sie wirkte traurig und ich schaffte es nicht, sie aufzumuntern. Hatte sie Schmerzen? Bekam sie genügend Schmerzmittel? Ich bekam ein schlechtes Gefühl und sprach mit der Pflegekraft. Sie versicherte mir, sich darum zu kümmern.


Mit sehr mulmigem Gefühl fahre ich nach Hause und muss auch in der Nacht an die Frau denken. 


Einen Tag später kam ich von meiner Arbeit heim und wollte mich für den Besuch bei ihr umziehen. Ich bekam eine E-Mail, in der stand, dass die Patientin gestorben war. 


Wie schmerzhaft waren ihre letzten Stunden? Hatte sie innerlich geschrien oder gelitten?


(Serkan)


Serkan Ilker ist ehrenamtlicher Sterbebegleiter. Mit seiner Kolumne bei #imländle nimmt er uns einmal im Monat zu seinen Begleitungen mit, um uns für die Themen Tod und Sterben zu sensibilisieren und diese zu enttabuisieren. Möchtest du mehr über die Arbeit von Serkan und seinen ehrenamtlichen Kolleg*innen erfahren? Dann schau mal hier.


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