Als meine Mutter erfuhr, dass sie schwanger war, sagte sie in breitestem Schwäbisch zu meinem Vater: »Des Kend will i net.« Sie hatte bereits zwei Mädchen zur Welt gebracht und entschied, sich nach meiner Geburt einfach nicht um mich zu kümmern: kein Füttern, kein Wickeln, kein Trösten. Und das machte sie wahr: Ab dem Moment, als wir vom Bethesda-Krankenhaus in Ulm zurück in unsere kleine Dreizimmerwohnung in Wieblingen kamen, legte mich meine Mutter ins Kinderbett und würdigte mich fortan kaum noch eines Blickes.
Mein Vater musste 14 Stunden am Tag bei Magirus-Deutz arbeiten. Er fuhr frühmorgens die zehn Kilometer mit dem Fahrrad hin und spätabends wieder zurück, schlief sofort ein und hetzte am nächsten Morgen sofort wieder auf die Arbeit. So bekam er nicht wirklich mit, wie es mir erging. Ich lag die meiste Zeit des Tages einsam in meinem Bettchen im kleinen Kinderzimmer, das ich mir mit meinen beiden Schwestern teilte.
Da ich für meine Mutter nicht existierte, kümmerte sich meine älteste Schwester Sabine um mich – mehr schlecht als recht natürlich, wie Vierjährige das eben können. Sie guckte sich ab, was meine Mutter mit der einjährigen Claudia machte, und tat es ihr an mir gleich. Ich war für sie sicher eine tolle Puppe, mit der sie Mama spielen durfte. Nur dass ich lebendig war und eigentlich andere Bedürfnisse hatte.
Schon als Baby von der Mutter ausgesetzt und vom Vater ins Heim abgeschoben. Wilhelm Buntz führte jahrelang ein Leben als Verbrecher und landet im Gefängnis. Dort dreht er sich Zigaretten aus der Bibel, begegnet Gott und schlägt einen neuen Weg ein. Mit Auszügen aus seiner Biografie „der Bibelraucher“ teilt der Ex-Knacki in seiner Kolumne bei #imländle seine Lebensgeschichte mit uns.
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Wilhelm Buntz: Der Bibelraucher, © 2018/2022 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH, D-71088 Holzgerlingen.