Er wartet auf irgendetwas

Er wartet auf irgendetwas

17. November 2022
Es war ein schöner Sommerabend, als meine Familie und ich zu Gast bei meiner Schwiegermutter waren und ich eine Nachricht von einer Bekannten aus dem Krankenhaus erhielt. Sie fragte mich, ob ich mir eine Sterbebegleitung vorstellen könnte. Ich schrieb ihr, dass ich mich am nächsten Tag bei ihr melden werde, um einen Termin zu vereinbaren.

Daraufhin fragte sie, ob ich nicht jetzt kommen könnte. Mir wurde die Notwendigkeit sofort bewusst, also sprach ich mit meiner Frau und machte mich auf den Weg ins Krankenhaus.

Dort wurde ich von zwei sympathischen Frauen empfangen, bei denen es sich um die Töchter des Patienten handelte. Sie erzählten mir vom Leben ihres Vaters. Mir wurde bewusst, dass ich einen ganz besonderen Menschen begleiten darf, einen Menschen vom Land, der sehr naturverbunden und hilfsbereit war.

Nach gut einer Stunde schickte ich die beiden Töchter nach Hause, da wir nicht wussten, wie lange es noch gehen würde. Der Vater atmete noch sehr kräftig, dies zeigte mir, dass es noch dauern kann.

Sein Zustand änderte sich von Stunde zu Stunde. Ich sagte ihm, dass er gehen kann, wenn es nicht mehr geht. Doch da merkte ich, dass er auf irgendjemand wartet und noch nicht loslassen kann.

Am Morgen öffnete sich die Zimmertür und der Sohn trat herein. Er fragte, ob er seinem Vater mit einem Tupfer etwas Schnaps auf die Zunge auftragen könne, da der Vater sehr gerne ab und an einen Schnaps getrunken hat. Bei Menschen, die im Sterben liegen und bereits alle Therapien abgesetzt wurden, werden oft letzte Wünsche dieser Art umgesetzt. Als der Sohn anfing, mit dem Tupfer Schnaps auf die Zunge aufzutragen, merkte ich, dass der Vater genau in diesem Moment seine letzten Atemzüge machte.

Ich sagte dem Sohn, dass sein Vater gerade am Gehen ist. Der Sohn war so durcheinander, dass er es nicht wahrnehmen konnte. Ich sagte ihm nochmals, dass der Vater gerade seine letzten Atemzüge nimmt und er es lassen sollte. Der Sohn fing an zu weinen und drückte seinen Vater ganz fest. In diesem Moment merkte ich, dass der Vater auf seinen Sohn gewartet hatte und dann loslassen konnte.

Es ist immer sehr rührend, solche Momente miterleben zu dürfen. Nachdem ich der Station mitgeteilt hatte, dass der Vater friedlich in der Anwesenheit des Sohnes eingeschlafen ist, blieb ich noch eine Zeit lang mit dem Sohn zusammen im Zimmer. Anschließend verabschiedete er mich mit einem befreienden Blick. Ich wünschte ihm und seiner Familie alles Gute auf dem letzten Weg und verließ das Krankenhaus.

(Serkan)


Serkan Ilker ist ehrenamtlicher Sterbebegleiter. Mit seiner Kolumne bei #imländle nimmt er uns einmal im Monat zu seinen Begleitungen mit, um uns für die Themen Tod und Sterben zu sensibilisieren und diese zu enttabuisieren.


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