Eine Sterbende kämpft für ihre Familie

Eine Sterbende kämpft für ihre Familie

10. Mai 2023

Heute begleite ich eine 67-jährige Frau im Pflegeheim. Sie hat Lungenkrebs im Endstadium, der mit Metastasen auf den Unterleib übergegangen ist. Die stärksten Medikamente können nur teils ihren Schmerz eindämmen. Ich sehe, dass sie sehr leidet und sich schämt. 


Mit großen Schmerzen und ganz allein lebt sie in einem kleinen Zimmer im Pflegeheim. Ihr Ehemann sitzt seit vielen Jahren im Rollstuhl und kann nichts mehr selbstständig tun. Die gemeinsame Tochter hat eine große Behinderung und ist somit auch auf fremde Hilfe angewiesen. Ich versuche eine Lösung zu finden. Wie soll die Frau loslassen und sterben, wenn die Familie, die sie braucht, nicht abgesichert ist? Nie in meinem Leben war ich so hilflos und geschockt. Nur dieses Schicksal gehört zu haben, hat mich so tief berührt, dass ich meine Tränen nicht unterdrücken konnte. 


Sie möchte noch einen Tag im Heim bleiben und dann zu ihrer Familie zurückkehren. Immer wieder sagt sie: „Ich darf nicht sterben, meine Familie braucht mich.“ Dass sie am Lebensende angekommen ist und ihre Tage begrenzt sind, weiß sie sehr genau, darf aber nicht sterben. Wie kann ein Mensch in einer solchen Situation mit den Gedanken nur bei der Familie sein und nicht an sich selbst denken?


Ihre letzten Worte sind, dass sie für ihre Familie einen Antrag auf eine Wohnung im Erdgeschoß stellen wird, damit sie es einfacher haben, mit dem rein und raus kommen.


In solchen Fällen finde ich es besonders schade, dass wir als Sterbebegleiter mit dem Rahmen unserer Hilfestellung den Patienten*innen gegenüber doch recht begrenzt sind und sie nicht auch über die Sterbearbeit hinaus unterstützen können. Mit gesenktem Kopf verabschiede ich mich und verlasse das Zimmer. Die Dame ruft mir noch hinterher, bedankt sich für das Gespräch und die kostbare private Zeit, die ich ihr zur Verfügung gestellt habe. (Serkan)


Serkan Ilker ist ehrenamtlicher Sterbebegleiter. Mit seiner Kolumne bei #imländle nimmt er uns einmal im Monat zu seinen Begleitungen mit, um uns für die Themen Tod und Sterben zu sensibilisieren und diese zu enttabuisieren.  


Möchtest du mehr über die Arbeit von Serkan und seinen ehrenamtlichen Kolleg*innen erfahren? Dann schau mal hier.


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