Die Angst vor dem Sterben

Die Angst vor dem Sterben

25. Januar 2023

In einem Pflegeheim begleite ich eine 79-jährige Dame, welche an einer schweren Krebserkrankung leidet. Ihre Kinder sitzen 24 Stunden abwechselnd bei ihr am Bett. Eine der Töchter hat eine so starke Bindung zur Mutter, dass sie schon seit Tagen bei ihr schläft. 
Ich merke, wie dringend die Familie eine Stütze braucht. 


Ich stelle mich vor und möchte viel über die Mutter wissen. Die Tochter und ich führen ein langes tränenreiches Gespräch.  
Im Zimmer erwartet mich eine gepflegte Dame. Die Tochter sagt ihr, dass sie nach Hause geht und ich bei ihr bleiben werde. Die Mutter erzählt mir aus ihrem Leben und was sie alles durchmachen musste. Sie ist sehr schwach. Ich merke, dass sie Gesellschaft braucht und halte ihre Hand, bis ich vom Sohn abgelöst werde.  


Am Folgetag frage ich die Tochter, wieso sie ihre Mutter so intensiv begleiten. Sie antwortet, dass die Mutter sehr große Angst vor dem Sterben hat und nicht allein sein will. Ich lese der Patientin aus dem Gebetsbuch vor. Sie fängt an zu weinen und erzählt mir von ihrer großen Angst.


Am nächsten Tag sitzt der Sohn weinend am Bett. Durch das Gespräch merke ich, wie sehr er an der Mutter hängt. Ich habe in meinen Begleitungen selten eine so starke Bindung erlebt, wie in dieser Familie.Acht Tage begleite ich sie. Das hilft der Familie. Sie alle können sich etwas erholen, da jemand bei der Mutter ist und Sitzwache hält.


Inzwischen sind wir ein eingespieltes Team. Allerdings verschlechtert sich der Zustand. Die Familienangehörigen sind weiter aufgelöst und bitten mich dafür zu sorgen, dass die Mutter keine Schmerzen hat. Die Stationsschwester verabreicht ihr etwas gegen die Angstzustände.Die Atemaussetzer werden häufiger. Irgendetwas beschäftigt die Dame, sie kann noch nicht loslassen. Vielleicht die große Angst vor dem Tod? Als ich mich abends verabschiede, sagt mir mein Gefühl, dass ich sie nicht mehr lebend sehen werde. Sie starb noch am selben Tag in Anwesenheit ihrer Kinder. 


Serkan Ilker ist ehrenamtlicher Sterbebegleiter. Mit seiner Kolumne bei #imländle nimmt er uns einmal im Monat zu seinen Begleitungen mit, um uns für die Themen Tod und Sterben zu sensibilisieren und diese zu enttabuisieren. Möchtest du mehr über die Arbeit von Serkan und seinen ehrenamtlichen Kolleg*innen erfahren? Dann schau mal hier. 


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