Der Glaube auf dem letzten Weg

03. Oktober 2022

Der Nachbar meines Zwillingsbruders liegt im stationären Hospiz in Tübingen.

 
Er hat ein stolzes Alter von 86 Jahren und ist mit einer schweren Krebserkrankung am Lebensende angekommen.
Mein Auftrag besteht darin herauszufinden, wieso er seine Ehefrau nicht bei sich haben möchte und sich regelrecht bei jedem Besuch von ihr wegdreht. 

Herr H. ist nicht gläubig und war auch nie in der Kirche. Nun möchte er auf eigenen Wunsch einen Pfarrer sehen, für letzte Gebete. Ich habe schon oft beobachtet, dass egal wie wenig gläubig jemand ist, auf dem letzten Weg doch am Glauben festgehalten wird, damit das Sterben leichter fällt. Das Hospiz macht dies möglich.
 
Der Sohn von Herrn H. ist verwundert über den Wunsch seines Vaters. Ich schreibe meinem Bruder, dass jetzt der Zeitpunkt naht, an dem Herr H. loslassen möchte. Ich bitte ihn, dies dem Sohn mitzuteilen, damit er nochmals die Möglichkeit hat, seinen Vater lebend zu sehen. Der Sohn bricht ins Hospiz auf. Meinem Bruder verspreche ich, am Folgetag selbst hinzugehen, um für Herrn H. zu beten.
 
Frühmorgens fahre ich ins Hospiz. Innerlich habe ich ein komisches Gefühl, welches ich unterdrücke. Dort angekommen wird mir mitgeteilt, dass Herr H. ruhig eingeschlafen ist. Ich bitte allein gelassen zu werden, damit ich mein Versprechen zu beten halten kann. 
 

Man hat Herrn H. schön hergerichtet. Er sieht so aus, als würde er schlafen. Als ich fertig mit beten bin, kommt mir am Bettrand der Gedanke: Herr H. wollte nicht mehr, dass seine Frau ihn am Sterbebett besucht, da er sie mit seinem Leiden nicht zusätzlich belasten wollte. 

(Serkan)

 

Serkan Ilker ist ehrenamtlicher Sterbebegleiter. Mit seiner Kolumne bei #imländle nimmt er uns einmal im Monat zu seinen Begleitungen mit, um uns für die Themen Tod und Sterben zu sensibilisieren und diese zu enttabuisieren. 

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