Auf einen Anruf gewartet

Auf einen Anruf gewartet

01. Juni 2022

Ich bin bei der Begleitung von Herrn P., einem 82-jährigen griechischen Patienten. Er ist seit 30 Jahren geschieden, hat keine Kinder und möchte zu Hause sterben. Der Patient hat Lungenkrebs im Endstadium und eine Morphinpumpe gegen seine Schmerzen angeschlossen.

In seiner Wohnung steht das Krankenbett mitten im Wohnzimmer. Der Tisch dort ist mit Medikamenten übersät. Noch nie hatte ich so viele bei einem Patienten gesehen. Herr P. ist starker Raucher. Die Vorhänge sind total vergilbt und die Luft ganz schwer vor Rauch. Es ist heute sehr heiß, weshalb ich die Fenster öffne, um zu lüften.

Jeden zweiten Tag fahre ich zu ihm und verbringe viele Stunden an seinem Sterbebett. Mir fällt auf, dass er ein Handy hat, welches immer auf seiner Brust liegt. Er schaut immer wieder drauf.


Als er mit der Zeit immer schwächer wird, ist sein Handy wahrscheinlich von einem Pfleger auf einen Stuhl verlegt worden. Während meines Einsatzes klingelt es. Ich schaue drauf und merke, dass der Anrufer aus dem Ausland anruft. Es ist eine griechische Nummer. Nachdem aufgelegt wurde, weil niemand ranging, schreibe ich dem Anrufer eine Nachricht, in der steht, dass Herr P. nicht alleine ist. Da ich die Nachricht auf Deutsch schreibe, weiß ich natürlich nicht, ob es vom Gegenüber verstanden wird.

Ich bin mir sicher, dass Herr P. auf irgendeinen Anruf gewartet hat, um loslassen zu können.
Nach ungefähr drei Wochen hat er es endlich geschafft und ist ganz friedlich in den Morgenstunden alleine verstorben.

Bei dieser Begleitung habe ich gemerkt, wie wichtig es ist, Freunde oder Familie zu haben, um am Lebensende nicht alleine zu sein.


(Serkan)


 


Serkan Ilker ist ehrenamtlicher Sterbebegleiter. Mit seiner Kolumne bei #imländle nimmt er uns einmal im Monat zu seinen Begleitungen mit, um uns für die Themen Tod und Sterben zu sensibilisieren und diese zu enttabuisieren.



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