Auf eigenen Beinen stehen

Auf eigenen Beinen stehen

25. Januar 2022

Heute bin ich im Pflegeheim bei einem 94-jährigen Herrn Z., der an Gallenkrebs leidet. Seine Frau ist schon vor vielen Jahren verstorben, womit er sehr alleine ist. Ich werde auf sein Zimmer begleitet und Herr Z. will sofort wissen, wer ich bin. Im Gespräch mit ihm erzählt er mir, dass man nach einigen erfolglosen OPs nichts mehr für ihn tun kann. Das Trinken und Essen hat er schon seit ein paar Tagen eingestellt.


Es ist ein ganz intensives Gespräch und Herr Z. öffnet sich immer mehr. Immer wieder nennt er mich Gerhard, ich scheine ihn an jemanden zu erinnern und so sind wir gleich sehr vertraut und auch per Du.


Nach zwei Stunden will er sich plötzlich im Bett aufsetzen und bittet mich um Hilfe. Er kommt mir sehr wackelig vor. Viele Sterbende möchten noch einmal auf ihren eigenen Beinen stehen. Als er an der Bettkante sitzt, atmet er schwer und zeigt auf seine am Boden liegende Tasche. Gespannt nehme ich die Tasche hoch und drücke sie ihm in die Hand. Mühevoll versucht er sie zu öffnen, aber er ist so schwach, dass er nicht einmal den Reißverschluss aufmachen kann. Zu meiner Überraschung holt er eine Mundharmonika heraus. Mein Besuch, so sagt er, habe ihn so erfreut, dass er mir zum Dank ein Lied vorspielen möchte. Es ist ein trauriges Lied und er bekommt Tränen in den Augen.


Ohne zu fragen, fülle ich ein Glas Wasser und sage, nun wird aber noch was getrunken. Er trinkt den ganzen Becher leer. Danach decke ich ihn zu und wünsche ihm eine gute Nacht. Ich muss ihm versprechen, dass ich wieder komme.


(Serkan)


 

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