Jede vierte Frau!

Jede vierte Frau!

18. April 2017

Kommt, wir gehen in den Supermarkt. Mit dem Einkaufsmärkle ziehen wir einen Wagen und eilen geschäftig durch die Gänge. Im Laden ist die Hölle los. Kurz nach Feierabend ist jede Kasse besetzt. An einer bleiben wir stehen und reihen uns in die Schlange ein. Jetzt heißt es warten. Genug Zeit, um unsere Aufmerksamkeit vom Einkaufszettel auf unser Umfeld zu richten. Wir sehen Menschen. Familien, Jugendliche, Männer und Frauen. Wir haben es auf die Frauen abgesehen und zählen gemeinsam durch. Eins, zwei, drei, vier. Noch mal: eins, zwei, drei, vier. Ganz schön viele Frauen sind das um uns herum und alle machen das Gleiche wie wir: einkaufen. Die alltäglichste Sache der Welt. Ob das Leben der anderen außerhalb des Supermarkts genauso unspektakulär abläuft wie unseres, wissen wir nicht. Eines sollte uns jedoch bewusst sein:


Mindestens jede vierte Frau in Deutschland ist Opfer häuslicher Gewalt.

Wollen wir mit diesem Wissen unseren Blick noch mal durch den Laden schweifen lassen, bevor wir unsere Vorstellung verlassen und mit der eigentlichen #imländle-Story beginnen?


Eins, zwei, drei, vier.

Ich für meinen Teil bin schockiert, als mir Tamara Fausel vom Frauenhaus Zollernalbkreis diese traurige Zahl nennt. Vor wenigen Wochen habe ich sie getroffen. Bereits beim ersten Gespräch wurde mir klar: Darüber muss #imländle berichtet werden. Lasst uns die Fakten betrachten, um ein Gefühl für die Thematik zu bekommen:



  • Jedes Jahr fliehen mehr als 17 000 Frauen mit fast genauso vielen Kindern aus ihrem Zuhause und suchen Schutz in einem Frauenhaus.

  • 50 % der Frauen sind deutscher Herkunft, 50 % haben einen Migrationshintergrund.

  • In Deutschland gibt es 400 Frauenhäuser, in Baden-Württemberg sind es 40.

  • Frauen aus allen sozialen Schichten sind betroffen, unabhängig von Bildung oder Einkommen.


Hinter jeder einzelnen Frau steckt ein Schicksal. Welche Folgen häusliche Gewalt direkt und indirekt für Kinder haben können, lässt den Schicksalsschlag noch gewaltiger werden. Das Frauenhaus Zollernalb hilft betroffenen Frauen seit über dreißig Jahren. Viele von uns wissen von seiner Existenz. Ich auch. Trotzdem hatte ich bis dato keine Ahnung, was genau dahintersteckt. Die Fakten aus dem letzten Jahresbericht vermitteln mir einen ersten Eindruck:



  • 2016 fanden mehr als 57 Frauen und 64 Kinder Schutz und Unterkunft im Frauenhaus.

  • Es wurden 177 Beratungsgespräche mit Frauen durchgeführt, die nicht im Frauenhaus lebten.

  • 104 Frauen mussten wegen Vollbelegung abgewiesen werden.


Als ich den Bericht noch einmal lese, überlege ich mir, wie es sich anfühlt, wenn man täglich mit Gewalt und Angst leben muss, und das vielleicht über Jahre hinweg.


Haben die Frauen Gedanken wie diese?

Wie ist er drauf, wenn ich vom Einkaufen heimkomme? Er hat sich doch entschuldigt und geschworen, dass er mir nie wieder wehtun wird. Scheiße, wie bekomme ich dieses verdammte blaue Auge weggeschminkt? Es tut weh, hör bitte auf damit, du liebst mich doch! Ich kann meinen Arm nicht mehr bewegen – was soll ich diesmal dem Arzt sagen? Der hat letztes Mal schon blöd nachgefragt. Ich gehe zu einem anderen. Ab jetzt mache ich einfach alles richtig, dann hört er auf, mich zu kontrollieren, und ich darf zu meiner Freundin zum Kaffee. Diagnose Kieferbruch. Ich hasse dich! Er hat sich wieder entschuldigt. Er entschuldigt sich immer. Er liebt mich. Nicht so laut, Kinder, Papa geht es heute nicht gut, geht schnell auf euer Zimmer. Ich kann nicht mehr. Ich muss hier raus. Bitte schrei mich nicht an. Die Kinder hören das. Tu mir nicht weh. Nicht ins Gesicht, bitte nicht wieder ins Gesicht! Bleib im Wohnzimmer. Nicht das Kinderzimmer. Lass die Finger von ihnen. Tu ihnen nicht weh. Hör auf damit. Ich hasse dich, hör auf damit! Ich kann nicht mehr. Wir müssen raus hier.


Endlich raus!

Ob so ähnlich oder ganz anders, es muss ein qualvoller Teufelskreis sein. Während ich schreibe, läuft mir ein Schaudern über den Rücken. In unserem Gespräch erklärt mir Tamara Fausel, wie das Frauenhaus hilft, wenn sich eine Frau mit letzter Kraft für „Endlich raus!“ entscheidet. Sie berichtet: „Mitunter ist es die Polizei, die den ersten Kontakt zu unserem Haus aufnimmt. Wenn die Situation in den eigenen vier Wänden eskaliert, sind es die Beamten, die die Frauen und Kinder rausholen und gemeinsam mit uns nach einer sicheren und freien Unterkunft suchen. Bei uns rufen aber auch andere Frauenhäuser, Freunde, Verwandte und die Frauen selbst an. Sind wir voll belegt, helfen wir bei der Suche nach einer Alternative. Fast nie wird ein Frauenhaus in der Region gewählt. Immer heißt es Koffer packen und zur eigenen Sicherheit wegreisen von der Heimat, dem Geburtsort, den Freunden, der Familie und dem alten Leben. Ist eines der acht Zimmer – fünf davon sind Familienzimmer – frei, vereinbaren wir einen anonymen Treffpunkt. Aus Sicherheitsgründen geben wir niemals die Adresse des Frauenhauses bekannt. Sollte beim Treffen jemand aus dem Freundeskreis oder der Familie dabei sein, muss sich diese Person jetzt verabschieden. Sie darf nicht erfahren, wohin die Reise geht. Unser oberstes Gebot ist es, den Schutz der Bewohnerinnen aufrechtzuerhalten. Das GPS des Smartphones wird ausgeschaltet. Wir hören den Frauen erst mal zu, trösten, beruhigen und besprechen bei ihrer Ankunft die Vorgehensweise und die Hausordnung.“


Was mir Tamara Fausel erzählt hat, regt mich erneut zum Nachdenken an.

Wie fühlt es sich an, wenn man seinem vertrauten Begleiter Lebewohl sagt und das Wiedersehen ungewiss ist? Mit Kindern, die wissen wollen, wann sie ihre Freunde in der Schule wiedersehen dürfen und wo Papa ist. Wenn man sich überlegt, was er wohl gerade macht? Was für Gedanken treiben einen um? Sucht er mich? Dreht er komplett durch? Wird er mich finden? Ist es richtig, was ich tue? Wie fühlt es sich an, wenn man in schweren Koffern einen Bruchteil seiner Vergangenheit in ein ungewisses Leben trägt? Welche Gefühle begleiten einen an solch einem Tag, in solch einer Nacht, wenn man im Frauenhaus ankommt, ein Zimmer bezieht und von fremden Frauen und Kindern begrüßt wird?


Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich wäre müde. Sehr müde.

Das sind viele von den Frauen. Darum dürfen sie erst mal ankommen. Sich ausruhen, ausschlafen, das Leben im Haus und ihre neuen Mitbewohnerinnen kennenlernen. Danach geht es los mit den unvermeidlichen Behördengängen. Die Kinder werden bei der Schule oder im Kindergarten angemeldet, es wird ein Arbeitslosenantrag gestellt, das Jobcenter besucht und alles Wichtige gemeinsam geregelt. Neben den bürokratischen Dingen bleibt viel Zeit für Gespräche und Zeit, um zur Ruhe zu kommen. Es geht um die Frage: Was braucht die Frau und was brauchen ihre Kinder, um sich wohlzufühlen, und wie kann es weitergehen? Genau darüber und über viele andere Aspekte aus dem Frauenhaus werde ich zukünftig berichten. Lasst uns diesen Weg des Hinschauens gemeinsam gehen. Es ist so wichtig zu erkennen, dass häusliche Gewalt an Frauen und Kindern keine Seltenheit ist. Unsere gemeinsame Aufmerksamkeit und Wahrnehmung ist ein wichtiger erster Schritt #imländle.


Eins. Zwei. Drei. Vier.

 

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