Video-Hike Winterlingen

Video-Hike Winterlingen

23. Mai 2017

Als mich das Landestheater Tübingen (LTT) beauftragt, den Hike zu wandern, habe ich keine Ahnung, was mich erwartet. Ich weiß lediglich, dass es sich um ein Künstlerprojekt handelt, das die Kunst im ländlichen Raum fördern soll, und dass die Winterlinger ziemlich stolz darauf sind. Mit dem Flecken hinter Albstadt, der knapp 6.500 Seelen zählt, hatte ich bisher wenig am Hut. Ich kenne die Kleinkunstbühne und den Skilift und war vor einiger Zeit bei der ortsansässigen Tätowiererin unter der Nadel.


Einen persönlichen Bezug hatte ich zu Winterlingen nicht.

Seit meinem Hike-Erlebnis ist das anders. Ich wage zu sagen, dass ich binnen wenigen Stunden eine Beziehung zu Menschen aufgebaut habe, denen ich nie begegnet bin – obwohl sie mir ständig über den Weg liefen. Der Ort selbst fühlt sich seither wie ein vertrautes Fleckchen Erde an, das ich aufrichtig ins Herz geschlossen habe. Aber zurück zum Anfang. Bevor ich an einem sonnigen Sonntag loswandere, google ich und erfahre: Der Video-Hike Winterlingen ist ein Projekt der THEATERWERKSTATT SCHWÄBISCHE ALB im Rahmen des Projekts „Lernende Kulturregion Schwäbische Alb“. Der Autor und Regisseur Tobias Rausch war für das LTT auf der Schwäbischen Alb unterwegs, um dort eine ganz neue Kunstform zu entwickeln: Ein Video-Hike, erhältlich als Smartphone-App, führt Besucher auf einen Spaziergang zu sechs Stationen in und um Winterlingen, an denen sie Orte, Menschen und Themen des Strukturwandels auf besondere Weise erleben können. * Quelle LTT Wahrscheinlich ein bisschen wie Geocaching, überlege ich, ohne es je ausprobiert zu haben. Ich lade die App runter und meinen Handyakku auf und fahre gen Winterlingen. Bevor es losgeht, gönne ich mir eine gutbürgerliche Pause im Gasthof Rosengarten. Einen dicken Daumen hoch für die kulinarische Wohltat, die äußerst freundliche Bedienung und die mehr als fairen Preise. Mit leichter Mittagsschwere pilgere ich zum Rathaus, zücke mein Handy, starte die App.


Ich tauche in eine Welt ein, die in meinem Leben keine Beachtung gefunden hätte.

Erst fühlt es sich seltsam an. Am Startpunkt mitten im Dorf schaue ich mir das Video an, das an ebendiesem Platz gedreht wurde. Die Stimme gibt mir Anweisungen. Ich folge ihr. Sehen so Pokemon-Spinner aus? Dieser schräge Gedanke verfolgt mich nur kurz, dann habe ich keine Zeit mehr, mir Gedanken über meine Außenwirkung zu machen. Viel zu sehr wirkt, was ich auf meinem Display und in meinem direkten, realen Umfeld sehe und erfahre. Wusstet ihr, dass es früher in Winterlingen mehr als ein Dutzend Schilderwirtschaften, jede Menge Geschäfte, Handwerker und drei Tankstellen gab? Heute herrscht bedeutend weniger Treiben. Viele Häuser und Geschäfte stehen leer. Ob der blutdurstige Großstadtvampir unseren Käffern das junge Leben aus den Adern saugt? Zerrt er junge Leute in seine Ballungsgebiete, weg von der Schwäbischen Alb? Wir wissen es nicht, aber klar ist, alles ändert sich. Menschen kommen, Menschen gehen. Ich gehe an jenem Tag weiter durch Winterlingen. Lerne dabei Evelin, Mustafa und andere Einwohner per Video kennen.


Ich erfahre etwas über ihr Leben, ihre Träume und Sehnsüchte.

Zwischendurch lege ich eine Rast ein. Ich schlürfe den lauwarmen Kaffee aus meiner Thermoskanne, stecke das Handy in den Rucksack und lasse das Hier und Jetzt auf mich wirken. Mittlerweile ist es mir scheißegal, ob ich mit dem Handy vor der Nase und schrägem Blick durchs Dorf schleiche. Ich bin mittendrin statt nur dabei und tief in der Geschichte des unscheinbaren Fleckens angekommen. So tief, dass ich mich erstens nicht allein und zweitens total normal fühle, obwohl ich von drei strickenden Göttinnen begleitet werde. Ich meine, wir haben es hier mit einem Kunstprojekt zu tun, was habt ihr erwartet? Abnormal wird es erst, als ich vor einem alten Fabrikgebäude und einem Zahlenschloss stehe. Auf meinem Handy flüstert mir eine der Göttinnen den Zahlencode ins Ohr. Wenige Sekunden später stehe ich in einem lichtdurchfluteten Raum in einer alten Stickerei und höre Hilde Nerz zu. Die ältere Dame erzählt von ihrer Arbeit als Näherin. Ganz ehrlich? Ich fühle mit und weiß jetzt, dass ihre Arbeit der reinste Knochenjob war. Es dauert eine Weile, bis ich mich von diesen geschichtsträchtigen vier Wänden trennen kann. Die besondere Atmosphäre fesselt mich. Am liebsten würde ich meine Gedanken in einem Gästebuch teilen oder an denen anderer teilhaben.


Nach dem History Flash geht’s zurück an die frische Luft und in die Natur.

Die perfekte Gelegenheit, den Kopf freizubekommen. Auf meinem Weg nach Harthausen lerne ich Bauer Benjamin Blickle und sein Leben kennen. Der Musikverein Winterlingen spielt mir ein Ständchen und ich wandere durch das Wannental. Surreal und überaus beeindruckend lasse ich mich durch Kunst und Information bis zur letzten Station der Harthausener Kirche führen. Zwischen Himmel und Erde an einem besinnlichen Ort wirken das Erlebte und das letzte Video eindrücklich auf mich.  Dann ist der Hike beendet. Die App führt mich sicher an meinen Winterlinger Ausgangspunkt zurück. Bevor ich aufbreche, gönne ich mir auf einer der Kirchenbänke ein paar Minuten Stille und ziehe mein Resümee: Was ich durch den Winterlinger Video-Hike erleben durfte, ist viel mehr als ein Kunstprojekt. Es sind Menschen, Schicksale und Herausforderungen unserer Heimat. Durch den Hike bekomme ich ein Gefühl für all das, was den Ort und wahrscheinliche viele andere Dörfer in ähnlicher Weise prägt. Es ist ein kunstvoller Appell an uns alle, die Augen und Herzen für unsere ländliche Region zu öffnen. Ein Hauch Hoffnung, gepaart mit Wehmut, verpackt in eine zeitgemäße Freizeitaktivität, die in keinem Ballungsgebiet so erholsam und eindrücklich wie auf der Schwäbischen Alb erlebt werden könnte. Der Video-Hike Winterlingen ist meines Erachtens Pflicht für jeden, der davon gehört hat – egal ob man #imländle zu Hause ist oder nicht. Für Jung oder Alt, die Tour ist eine absolute Bereicherung.  


 

 Tipps am Rande:



  • Für Kleinkinder ist der Hike meines Erachtens nicht geeignet.

  • Die Wanderung ist toll für Gruppen, aber auch im Alleingang ein grandioses Erlebnis.

  • Für ein ungetrübtes Vergnügen einen Ersatzakku (!) und Kopfhörer mitnehmen.


  Kurzurlaub Winterlinger Wochenende:



       


Hinter jedem #imländle-Beitrag stecken viel Planung, Zeit und Leidenschaft. Darum ist gewerbliches Storytelling nicht kostenlos. 

Die Themen werden mit Bedacht und verantwortungsvoll gewählt. Egal ob bezahlt oder nicht, der #imländle Lesestoff ist immer authentisch und mit viel Herzblut geschrieben.

An dieser Stelle herzlichen Dank für das Vertrauen und die spannenden Erfahrungen mit dem Video- Hike, liebes Team vom  LTT Tübingen. Schön, dass wir gemeinsam Geschichte #imländle schreiben.
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