Zur Last fallen

Zur Last fallen

22. Februar 2022

Herr A. ist 55 Jahre alt. Er kommt aus dem Iran und lebt alleine. Ohne Kontakt zur Außenwelt, abgeschottet und isoliert. Er ist sehr einsam. Bei Herrn A. wurde ein Hirntumor entdeckt, der durch eine OP entfernt wurde. Er war 20 Jahre in einer Hochschule als IT-Fachmann tätig, ist sehr intelligent und spricht vier Sprachen.


Ganz zu Anfang unseres Gespräches erzählt er mir, dass er einen Autounfall hatte und aus diesem Grund die große Narbe am Kopf hat. Im Verlauf unseres Gespräches baut er Vertrauen zu mir auf und gibt kleinlaut zu, dass er einen Hirntumor hat. Er ist psychisch sehr angeschlagen und stark depressiv. An manchen Tagen weint er bis zu sechs Stunden. Im Gespräch merke ich, dass er sehr großen Redebedarf hat und ununterbrochen spricht.


Herr A. berichtet über die überwältigende Hilfe von ÄrztInnen und er schämt sich dafür, dass nur aufgrund seiner Krankheit so viele Menschen für ihn aktiv sind. Einen so dankbaren Menschen habe ich bis dahin noch nicht erlebt.


Er sagt zu mir: „Sie haben doch bestimmt eine Familie und Kinder. Aber wegen mir sind sie nun weg von ihnen und sitzen nun hier.“ Er weint. Am liebsten würde er sofort sterben, um von seiner Scham erlöst zu werden. Er möchte niemandem zur Last fallen.


Als ich wieder auf dem Heimweg bin, laufen mir die Tränen, bis ich daheim ankomme. Daheim werde ich gefragt, ob der Sterbepatient verstorben sei. Ich sage nur: „Du weißt gar nicht, wie reich wir sind!“


In Begleitungen war ich schon oft sehr traurig, aber bei dieser habe ich mich wirklich sehr hilflos und ausgeliefert gefühlt.


(Serkan)


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