Sie war meine Mutter. Aber sie hatte mich verstoßen. Warum war sie hierhergekommen? Nagte das schlechte Gewissen an ihr? Hatte sie Sehnsucht nach mir? Wollte sie mich leiden sehen? Ich wusste es nicht. Ich verspürte abgrundtiefen Hass für sie und gleichzeitig eine tiefe, unerklärliche Liebe. Ich befand mich in dem heftigsten Gefühlsstrudel, den ich bisher erlebt hatte. Ihre Motive waren für mich undurchschaubar, aber ein Hoffnungsfunke glomm in mir auf: Vielleicht hatte diese Frau sich verändert und wollte mich nun hier rausholen. Vielleicht würde mein Leben von nun an anders und besser werden. Ich merkte plötzlich, wie sehr ich mich nach einer Familie sehnte, einem Zuhause mit Menschen, die mich liebten und mir nichts Böses wollten. Und vor allem: denen ich nichts Böses wollte. Vor denen ich nicht den Starken markieren, mich und meine Stellung nicht verteidigen und meinen Platz erkämpfen musste. Ein Zuhause, an dem ich einfach so angenommen und geliebt wurde, wie ich war.
Eine Bewegung, die ich aus dem Augenwinkel wahrnahm, riss mich jäh aus meinen Gedanken und ließ mich erschaudern. Sie klickte ihre Handtasche zu. Einfach nur ihre Handtasche. Aber ich wusste intuitiv, was diese Bewegung hieß. Sie erhob sich langsam von ihrem Stuhl und ihre Worte hätten in diesem Moment kaum brutaler sein können: »Wir müssen jetzt gehen, Helme!« All meine Hoffnung, die sich in der letzten Stunde aufgebaut und in meinen Gedanken fast schon zu einer Sicherheit manifestiert hatte, jede Chance auf ein besseres Leben außerhalb von Heimmauern explodierte bei diesen Worten mit einem lauten Knall in meinem Kopf. Sie ließ mich hier.
Schon als Kind ungewollt und unter härtesten Bedingungen aufgewachsen. Wilhelm Buntz führte jahrelang ein Leben als Verbrecher und landet im Gefängnis. Dort dreht er sich Zigaretten aus der Bibel, begegnet Gott und schlägt einen neuen Weg ein. Mit Auszügen aus seiner Biographie „der Bibelraucher“ teilt der Ex-Knacki in seiner Kolumne bei #imländle seine Lebensgeschichte mit uns.
Zum Buch geht‘s hier.