Kindergartenkinder stärken und schützen

Kindergartenkinder stärken und schützen

11. April 2018
In Zusammenarbeit mit dem Verein Feuervogel e. V. berichte ich regelmäßig über das Thema sexualisierte Gewalt an Kindern. Im ersten Beitrag erkläre ich, warum ich das tue, mit dem zweiten schauen wir uns die Historie dieser tragischen Thematik an. Dieser Beitrag gibt einen Einblick in das Präventionsangebot des Vereins sowie konkrete Denkanstöße. Das Angebot ist breitgefächert und auf unterschiedliche Altersgruppen abgestimmt. Heute legen wir unser Hauptaugenmerk auf Kinder im Kindergartenalter. Wie können wir sie stärken und schützen?

Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass Kinder, sofern ein vertrauensvolles Verhältnis zu den Eltern besteht, es sagen, wenn ihnen jemand „wehtut“. Leider werde ich von Frau Kanz eines Besseren belehrt. Sie ist verantwortlich für die Präventionsangebote des Vereins und führt Informationsveranstaltungen an Schulen, in Vereinen und Kindergärten durch.  Da das Angebot sehr vielfältig ist, entscheiden wir uns dafür, jeden Bereich einzeln zu betrachten. Wir fangen mit dem Kindergartenalter an. Als wir in den Räumen des Vereins zusammenkommen, trifft mich eine Aussage zu Beginn unseres Gesprächs mitten ins Herz:
Wir können nicht davon ausgehen, dass betroffene Kinder den ersten Weg zu ihren Eltern suchen und sagen: Hilf mir!

Diese Tatsache ist schockierend. Wie können wir Kindern helfen, wenn wir im schlimmsten Fall nicht einmal bemerken, dass sie Grausames durchleben? Sexualisierte Gewalt an Kindern findet oft im vertrauten Umfeld statt. Genau dort sind die Täter(innen) meist keine Bösewichte. Vieles, was sie tun, macht sie liebenswürdig. Es sind vertraute Menschen, die teilweise über Jahre hinweg eine Bindung zu den Kindern aufbauen. Die sexualisierte Gewalt ist lediglich ein Teil der Beziehung, die gelebt wird. Die Kinder spüren, dass das nicht richtig ist, können es jedoch oft nicht zuordnen. Zudem können die Täter(innen) äußerst manipulativ vorgehen und ihre Opfer durch Angst zum Schweigen bringen. Stirbt Mama, wenn ich etwas verrate? Gibt es den schwarzen Mann wirklich, der mich holt, wenn ich weine? Solche Drohungen stelle ich mir unter dieser düsteren Manipulation vor. Ich sehe kleine Kinder im Alter von drei bis sechs Jahren. Denke an die blühende Phantasie und an den großen Glauben, den sie an uns Erwachsene knüpfen. An die Angst vor bösen Geistern und an die grausame Vorstellung, die eine kleine Kinderseele durchlebt, wenn mit dem Tod eines lieben Menschen gedroht wird. Man kann sagen, dass Kinder, die verletzlich sind, sich nach Aufmerksamkeit sehnen und sich nicht wehren können, schneller Vertrauen zu einem Täter fassen. Aber auch das ist lediglich eine Tendenz. Ich frage mich, welche Kinder nicht verletzlich sind. Noch mehr will ich wissen, wie wir die Kleinen im Alltag stärken können.
Wir müssen eine Beziehung schaffen, die Vertrauen schafft.

Es gibt wenige eindeutige Hinweise, die für sexualisierte Gewalt stehen. Verhaltensauffälligkeiten können viele Gründe haben. Veränderungen, zum Beispiel der Tod eines Haustiers oder ein Umzug, können unsere Kleinen aus dem Gleichgewicht bringen. Müssen wir jetzt jedes Mal abwägen, ob sexualisierte Gewalt der Auslöser ist? Ich glaube, das wäre fatal. Andererseits gilt es sensibel und achtsam den Umgang mit unseren Kindern zu pflegen. Eine Beziehung zu schaffen, die Vertrauen schafft. Unsere Kinder dahingehend zu stärken, dass sie spüren, egal welches Problem sie mit sich tragen: Wir sind da. Wir helfen. Wie stellen wir das an?
Die Floskel „Steig zu keinem Fremden ins Auto“ reicht nicht aus.

Wie schaffen wir es, dass sich unsere Kinder zu selbstbewussten Persönlichkeiten entwickeln? Dass sie lernen, Grenzen zu setzen und zu akzeptieren sowie eine gesunde Beziehung zur Sexualität und zu ihrem Körper zu entwickeln? Genau diese Fragen werden bei den Informationsveranstaltungen behandelt. Diese können übrigens alle Kindergärten (Schulen und Vereine) in der Region in Anspruch nehmen. Zudem bietet der Verein Familien die Möglichkeit, in Gruppen eine Präventionsrunde in seinen Räumen zu buchen. Die Kosten liegen bei 110 Euro. Finden sich einige Eltern zusammen, ist der Betrag überschaubar. Eine extrem sinnvolle Alternative zum nächsten Kaffeekränzchen, wie ich finde. Spannend ist, dass es bei den Veranstaltungen vordergründig nicht um sexualisierte Gewalt an sich geht. Eltern lernen, wie sie ihre Sprösslinge bei der Sexualentwicklung bestmöglich unterstützen. Untersuchungen zeigen, dass sich Kinder, die über den Körper aufgeklärt sind und Begriffe für ihre Körperteile kennen, bei sexuellen Übergriffen schneller Hilfe holen respektive sich ausdrücken können. Die Eltern werden über eine altersgerechte Aufklärung informiert, treten in Dialog und bekommen praxisnahe Tipps, wie sie ihre Kinder konkret stärken und ermutigen. Bei dem Gespräch mit Frau Kanz bekomme ich einen kleinen Einblick, den ich hier mit euch teile.
Warum sagen wir Schnäpperle oder Mumu?

Wie gehen wir Erwachsene mit der Benennung der Geschlechtsteile um? Wollen wir ehrlich sein? Der Penis heißt schon mal Pipimann oder Schnäpperle. Die Vagina wird gängig als Mumu betitelt. Warum machen wir das? Empfinden wir selbst ein Schamgefühl, wenn wir die Dinge beim Namen nennen? Sagen wir zu unserer Nase „Näsle“ oder zum Rücken „Rückenle“? Eher weniger. Die Verniedlichung spiegelt eine unnatürliche Einstellung zur Natürlichkeit der Sexualität wider. Geschlechtsteile sind vollwertige Körperteile. Es sind der Penis und die Vagina. Daran ist nichts schlecht, verboten oder heimlich. Selbst ertappt?
Kinder dürfen ihren Körper erforschen.

Sie dürfen herausfinden, was sich gut anfühlt und wie der eigene Körper oder der von anderen aussieht. Die kindliche Sexualität ist nicht vergleichbar mit der erwachsenen und sollte ihren Raum zur Entfaltung bekommen.
Kinder sollen Grenzen setzen.

Viele kennen die Situation: Zum Abschied muss unser Nachwuchs die Oma, die Tante oder den Onkel umarmen. Das Kind will nicht. Wir schon. „Komm jetzt, drück die Oma doch noch, ihr habt einen so tollen Spielnachmittag verbracht.“ Das Kind will nicht. Es setzt eine Grenze. Wir sollten lernen, die Entscheidung zu akzeptieren, unser Kind bestärken und unterstützen. Du wirst berührt, wenn du es möchtest. Punkt.
Wir setzen Grenzen.

Das stille Örtchen muss nicht dauerhaft zum Familienausflugsziel werden. Unser Nachwuchs kann vor verschlossener Tür warten. Andersrum genauso. Wollen wir an manchen Stellen nicht berührt werden, sagen wir das. Wir sind die Vorbilder. Das gleiche Recht gestehen wir unseren Kindern zu.
Teller leer essen?

Es steht außer Frage, dass wir unseren Kindern die Wertigkeit der Nahrungsmittel nahebringen sollten. Ein Teller muss nicht immer randvoll sein, um satt zu werden. Trauen wir unseren Kindern jedoch zu, dass sie selbst entscheiden können, wann sie satt sind? Müssen sie den Teller leer essen? Essen wir, bis uns schlecht wird? Ertragen wir etwas, bis es uns nicht mehr gut geht?
Kinder dürfen weinen, wenn es wehtut.

Viele von uns kennen die Situation: Junior fällt hin, tut sich weh und weint. Wir besänftigen: „Ach, komm schon, so schlimm ist das doch nicht.“ Können und dürfen wir das beurteilen? Welcher Sinn steckt dahinter, wenn wir den Schmerz unseres Kindes nicht ernst nehmen? Wie fühlt es sich an, wenn uns etwas wehtut und eine vertraute Person ungeduldig den Kopf schüttelt?
Kinder dürfen schlechte Laune haben.

Wir sollten lernen, das zu akzeptieren, und sie nicht in unserer Ungeduld untergehen lassen. Den passenden Zeitpunkt für schlechte Laune gibt es kaum. Besonders nicht, wenn wir mitten in unserem Alltag stecken. Doch wie fühlt es sich an, wenn wir nicht gut drauf sind und sich andere davon genervt fühlen und kein Verständnis haben?
Väter sind vor allem für Jungen große Vorbilder.

Wenn Papas signalisieren, Männer seien immer stark und cool und weinten nicht, fällt es dem Kind schwer, sich selbst zu finden. Schwulsein wird von vielen Vätern als abnormal bezeichnet. Sie haben Angst, dass ihr Junior selbst Gefallen am gleichen Geschlecht findet. Das widerspricht dem gängigen Männlichkeitsbild. Fraglich ist, inwieweit sich ein Junge als „normal“ sehen kann, wenn er Opfer von sexualisierter Gewalt wird und genau weiß, wie schlimm Papa das  Schwulsein findet. Wird er seinen Vater weinend um Hilfe bitten? Warum sollte er überhaupt vor ihm weinen, wenn coole Jungs so was nicht tun?
Ein Geheimtipp: das Geheimnis.

Speziell im Kindergartenalter sind Geheimnisse großartig und wichtig. Sprechen wir unsere Kinder darauf an, bekommen sie funkelnde Augen. Es liegt an uns, ihnen beizubringen, dass es schlechte Geheimnisse gibt und der Ehrenkodex der Verschwiegenheit in diesen Fällen gebrochen werden darf. Sei es unfaires Verhalten von Gleichaltrigen oder von anderen Personen: Wenn es wehtut, darf man es jemand sagen. Das ist übrigens aus kindlicher Sicht nicht selbstverständlich. Es sei denn, wir klären auf.
Kinder wollen uns schützen.

Kinder sind verantwortungsvolle Persönlichkeiten. Sie lieben uns bedingungslos. Mehr als das: Sie versuchen, uns zu schützen. Häufig wollen sie uns Eltern nicht mit „kleinen“ Sorgen belasten. Wir müssen ihnen das Gefühl geben: Egal was ist, wir halten das aus. Schont uns nicht! Alle Nöte, Ängste und Sorgen sind in unserem Herzen willkommen.
Erziehungsmethoden hinterfragen.

Jeder von uns kann seine Erziehungsmethoden hinterfragen und sie gegebenenfalls ändern. Außerdem sollten wir lernen, unseren Kindern anders zuzuhören. Wir dürfen nicht interpretieren. Wir glauben, vor allem als Eltern, wir wissen, was unser Kind sagen will.  Diese Vorstellung ist nicht richtig. Lasst uns aufmerksame Zuhörer werden. Konkrete Fragen stellen und viel Raum für Antworten geben.
Wir schützen unsere Kinder.

Unsere Kinder müssen nicht perfekt sein. Sie dürfen weinen, nörgeln, schwach und traurig sein. Das dürfen sie uns zeigen, und wir sollten sie darin bestärken, dass sie genau darum einzigartig und richtig sind. Wir stehen in der Verantwortung, unsere Kinder kontinuierlich im Alltag zu unterstützen und zu festigen. Wenn es gelingt, schaffen wir eine gesunde Basis, die großen und kleinen Problemen standhalten kann. Dadurch können wir sie schützen. Denn genau das ist unsere Aufgabe.

 
Buchempfehlungen

Bartoli y Eckert (2010): Geschichten vom Nein-Sagen. Verlag an der Ruhr.

Enders & Wolters (2011): SchönBlöd – Ein Bilderbuch über schöne und blöde Gefühle. Zartbitter.

Enders & Wolters (2016): Wir können was, was ihr nicht könnt! Ein Bilderbuch über Zärtlichkeit und Doktorspiele.

Mebes & Noack. Goldbeck et al (2017): Ratgeber sexueller Missbrauch. Information für Eltern, Lehrer und Erzieher. Hogrefe.

ProFamilia (2011): Mein Körper gehört mir! Schutz vor Missbrauch für Kinder ab 5. Loewe.
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